50 Jahre Werraland Lebenswelten

31.08.2021

Am Montag, 6. September 1971, schlug die Geburtsstunde der Werraland Lebenswelten. Mit Werraland verbinden viele Bürger im Kreis die Werkstatt für beeinträchtigte Menschen am Eschweger Hessenring, doch der Verein mit seinen Tochtergesellschaften ist viel mehr als das. Wir sprachen anlässlich des 50-jährigen Jubiläums mit Werraland-Vorstand Georg Forchmann und Ralph Beyer, dem Verwaltungsratsvorsitzenden der Werraland Lebenswelten.

 

Herr Forchmann, die Werraland-Geschichte ist geprägt von Veränderungen. Wird es mit Ihnen als Vorstand nicht Zeit für ein bisschen mehr Kontinuität?

Forchmann: Es ist richtig, dass sich in den vergangenen 50 Jahren viel getan hat bei Werraland. Allerdings stand Werraland auch immer für eine große Kontinuität die verantwortlichen Personen betreffend. Erst über Jahrzehnte mit Ehrenfried Emmerich an der Spitze, dann 20 Jahre lang Gerd Hoßbach. Beide haben mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Tatendrang die Werraland Lebenswelten geprägt und weiterentwickelt.

Diese Weiterentwicklung werden wir fortsetzen. Veränderung ist unser Tagesgeschäft, denn neue Herausforderungen bedeuten Veränderung – und wir wollen und müssen uns neuen Herausforderungen stellen, um den uns anvertrauten Menschen die bestmögliche Begleitung und Betreuung anbieten zu können.

Der Name Werraland steht im Werra-Meißner-Kreis für Inklusion und Teilhabe. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigungen weiter zu optimieren, ist Ziel und Auftrag zugleich für uns.

Darüber hinaus müssen wir stets auch auf Veränderungen von außen reagieren, beispielsweise auf geänderte gesetzliche Rahmenbedingungen durch das Bundesteilhabegesetz oder Anpassungen bei der staatlichen Finanzierung.

 

Herr Beyer, wie und wann ist Werraland entstanden?

Beyer:Am 6. September 1971 gründeten sieben Personen mit einem enormen Weitblick den Verein „Werkstätte für Behinderte Eschwege“. Das waren Amtmann Helmut Buchbach, Landrat Eitel O. Höhne, Richter Günther Roßbach, Rektorin Eva Schinkel, Rektor Gerhard Wilke, Bürgermeister Emil Ziska und Dekan Fritz Delius, nachdem unsere Wohnstätte in Datterode benannt ist. Am 15. Januar 1973 nahm der Verein dann seine Arbeit in einem Raum des ev. Gemeindehauses an der Boyneburger Straße in Eschwege auf. Werkstattleiter Ehrenfried Emmerich und ein Mitarbeiter betreuten sechs junge Menschen mit Beeinträchtigungen. Der zweite Meilenstein in der Werraland-Historie erfolgte dann im Februar 1979 mit der Eröffnung des Werkstattgebäudes am Hessenring 1, unserem heutigen Hauptstandort.

 

Entwickelt sich die Behindertenhilfe Ihrer Ansicht nach in die richtige Richtung?

Forchmann: Wenn man sich den Stellenwert von Menschen mit Beeinträchtigungen noch vor wenigen Jahrzehnten anschaut, kann die Antwort nur ein deutliches Ja sein. Selbst Eltern von behinderten Kindern haben sich bis in 1960er Jahre teilweise geschämt für ihre Kinder. Davon sind wir Gott sei Dank heute meilenweit entfernt.  Auch dank der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008, die unmissverständlich deutlich macht, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in der Mitte der Gesellschaft leben.

In der Praxis ist das leider aber noch nicht überall angekommen. Immer wieder ist zu beobachten, wie gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen Mitleid gezeigt wird. Doch sie brauchen kein Mitleid, sondern pragmatische Unterstützung. Und hier sind wir auf einem sehr guten Weg. Unsere Angebote werden immer passgenauer und personenzentrierter. Unser Fachpersonal schaut explizit auf die persönlichen Bedürfnisse und entwickelt gemeinsam mit dem beeinträchtigten Menschen, seinen Angehörigen oder Betreuern ein individuelles Angebot, das alle relevanten Bereiche, wie Arbeit, Wohnen und Freizeit beinhaltet.

Beispielsweise haben wir deshalb auch unseren Namen geändert. Werraland Werkstätten hat es nicht mehr ausreichend getroffen, denn wir bieten weit mehr als nur Arbeit an.

Mehr Inklusion, mehr Teilhabe - einen allumfassenden Lebensraum zu bieten - sind die Ziele. Hier sind wir, hier ist die Behindertenhilfe auf einem guten Weg.

 

Wie viele Mitarbeiter sind bei Werraland Stand heute beschäftigt?

Beyer: Aus den zwei Mitarbeitern und sechs Menschen mit Beeinträchtigungen sind Stand heute 450 hauptamtliche Mitarbeiter in den verschiedenen Bereichen der Lebenswelten geworden. In unserer Werkstatt am Hessenring und der Integrierten Betriebsstätte in Witzenhausen, die wir gemeinsam mit dem Verein Aufwind betreiben, arbeiten insgesamt 380 Mitarbeitende mit Beeinträchtigungen.

 

Verschiedene Tochterfirmen gehören ebenfalls zu Werraland.

Beyer: Ja, wir haben insgesamt vier Tochtergesellschaften, von denen die Werraland-Beschäftigungsgesllschaft (WeBeG) mit rund 100 Mitarbeitenden die größte ist. Die WeBeG ist eine Inklusionsfirma, in der 40 Prozent der Mitarbeitenden mit Handicap ihr Können einbringen. Die drei Säulen unserer WeBeG sind die Großküche mit dem Bistro amélie, die Gebäudereinigung und das Panorama-Hotel Kochsberg.

Unsere Burgenhof gGmbH ist eine Einrichtung der Jugendhilfe. An den beiden Standorten Witzenhausen und Werleshausen wohnen Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr zuhause leben können.

Unsere jüngste Tochter ist die Werraland Ambulante Dienste gGmbH (WEADI) mit Sitz in Eschwege und Hessisch Lichtenau. Sie umfasst die Bereiche Familiendienst, verschiedene Assistenzdienste, beispielsweise unseren großen Bereich Schulbegleitung, das Netzwerk Ehrenamt und Kochsberg Reisen, unser Urlaubspezialist für begleitetes Reisen.

 

Welchen Herausforderungen muss sich Werraland stellen?

Forchmann: Als Einrichtung der Eingliederungshilfe unterliegen wir, genau wie viele andere Branchen auch, den Vorgaben der Politik. Beispielsweise existiert mit dem neu geschaffenen Bundesteilhabegesetz ein umfassendes Gesetzespaket, das seit 2020 in vier zeitversetzten Reformstufen bis 2023 in Kraft tritt und viele Veränderungen für uns mit sich bringt.

Erschwerend auf unsere Arbeit zum Wohl beeinträchtigter Menschen wirkt sich die finanzielle Situation im Sozialhilfesektor aus. Durch leerere kommunale und übergeordnete Kassen wird zukünftig weniger Geld zur Verfügung stehen. Die Zeiten als Einrichtungen wie Werraland aus dem Vollen schöpfen konnten, sind seit einem Jahrzehnt definitiv vorbei. Wir müssen daher, genau wie jeder andere Betrieb, wirtschaftlich denken. Darüber hinaus stehen wir ständig in engem Kontakt zu unseren Kostenträgern.

 

Welche Pläne verfolgt Werraland in naher und ferner Zukunft?

Forchmann: Ganz oben auf unserer Agenda steht der Neubau unserer Wohnstätte in Bad Sooden-Allendorf und die Fertigstellung des ehemaligen Sportinternats in der Badestadt zu einem inklusiven Wohn- und Sportangebot.

Sehr erfreulich ist auch, dass unsere Großküche viele neue Aufträge erhalten hat. Beispielsweise werden wir die Verpflegung weiterer Schulen im Kreis verantworten - das ist eine super Sache, die zeigt, welch hohe Qualität unser Team der WeBeG bietet.

Vor kurzem haben wir uns mit dem Kauf der WaschBar in Eschwege schon erweitert. Für uns eine sehr sinnvolle Investition, da wir bereits eine Wäscherei am Hessenring betreiben und mit der WaschBar weitere Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung außerhalb der Werkstatt realisieren.

Dies ist ein weiterer Schritt, um Menschen aus  dem besonders geschützten Bereich einer Werkstatt  dort arbeiten zu lassen, wo Menschen ohne Beeinträchtigungen auch arbeiten. Die Schaffung von Außenarbeitsplätzen in heimischen Unternehmen werden wir weiter forcieren. Diesbezüglich bedanken wir uns bei vielen Arbeitgebern der Region, die mit uns kooperieren und so einen immens wichtigen Beitrag zu mehr Inklusion leisten.

An unseren verschiedenen Standorten wollen und müssen wir teilweise modernisieren und für umfassende Barrierefreiheit sorgen. Das kostet viel Geld, was auch erst einmal erwirtschaftet werden muss. Allerdings wissen wir um die Notwendigkeit dieser Maßnahmen, um Menschen mit Beeinträchtigungen den Standard bieten zu können, den sie brauchen und verdient haben.

 

Werden Sie das Jubiläum feiern?

Beyer: So wie wir es gerne feiern möchten, ist das leider nicht möglich. Gar nichts zu machen, war für uns aber auch keine Option. An vielen unserer Standorte haben die Mitarbeiten Events für die uns anvertrauten Menschen organisiert. Diese müssen aufgrund unserer strengen Hygieneregeln aber leider ohne Besucher stattfinden. Es gibt aber zwei Ausnahmen: Unser Burgenhof lädt am Mittwoch, 8. September, ab 16 Uhr gemeinsam mit unserem Ambulanten Wohnen alle Interessierten an unseren Standort im Werner-Eisenberg-Weg 3a, Witzenhausen, ein. Ein kleines, buntes Programm erwartet die Besucher. Und  am kommenden Sonntag, 12. September, findet um 10.30 Uhr ein Freiluft-Gottesdienst an unserer Eschweger Wohnstätte in der Kasseler Straße statt, zu der Gäste ebenfalls herzlich willkommen sind.

Eine große Jubiläumsfeier an unserem Hauptstandort Hessenring werden wir hoffentlich im nächsten Jahr nachholen können mit vielen Gästen und Freunden. Wir feiern dann „Werraland Lebenswelten 50 Jahre +1“.

Hier geht's zum Video "50 Jahre Werraland Lebenswelten": https://bit.ly/3jqytaV

 

Führen die Werraland Lebenswelten: Vorstand Georg Forchmann (li.) und Verwaltungsratsvorsitzender Ralph Beyer. Foto: Winter

1972: Der erste Standort für die geplante Behindertenwerkstatt war in der Schillerstraße in Eschwege, vormals Gardinenfabrik Melzer. Fotos: Archiv

1989 wurde beschlossen, dass zu den damals bereits gebauten drei Wohnhäusern in der Kasseler Straße zwei weitere dazu kommen.

1992: Hanna Hossbach, seit 1983 Pfarrerin in Wanfried, übernahm den Vorsitz der Werraland Werkstätten.

2000: Gerd Hoßbach (re.) übernimmt Leitung der Werraland Werkstätten von Ehrenfried Emmerich, der 27 Jahre an der Spitze stand.

2005: Werraland eröffnet Werner-Seeger-Haus, das Kindern mit Handicap und Schwerstmehrfachbehinderungen ein Zuhause bietet.

2007: Engangierte Eltern gründen den Förderverein zugunsten der Werraland Werkstätten. Erste Vorsitzende wird Evelyn Leuschner.

2012: Neues Geschäftsfeld Jugendhilfe. Werraland Werkstätten übernehmen Burgenhof mit Standorten in Werleshausen und Wendershausen.

2020: Aus Werkstätten wird Lebenswelten. Werraland ändert Namen, da das Sozialunternehmen weit mehr bietet als "nur" Werkstatt.

2020: Gerd Hoßbach (Mitte) flankiert von seinem Vorgänger Ehrenfried Emmerich (li.) und seinem Nachfolger Georg Forchmann.

2021: Nächster Meilenstein in der Werraland-Historie - die Grundsteinlegung für die neue Wohnstätte in Bad Sooden-Allendorf ist erfolgt.