Vage Hoffnung auf Normalität

15.06.2020

Das hatte es in der fast 50-jährigen Geschichte der Werraland Lebenswelten noch nicht gegeben. Über Wochen musste die Werkstatt bedingt durch die Corona-Pandemie schließen. Von einem Tag auf den anderen wurde die Produktion herunter gefahren, fast 400 Mitarbeiter mit Beeinträchtigungen durften die Werkstatt auf Anweisung der Landesregierung nicht mehr betreten.
„Das war natürlich für uns alle komplettes Neuland, mit solch einer Situation hatten wir keine Erfahrungen“, sagt Werraland-Vorstand Georg Forchmann. Mittlerweile wurde das Betretungsverbot teilweise aufgehoben. „Die Vorgaben, wer in der Werkstatt wieder arbeiten darf, sind streng geregelt. Daher kamen anfangs nur 30 Personen in Frage“, so Werkstattleiterin Michaela Harnge. Für die große Masse heißt es weiterhin, Zuhause bzw. in den Wohnstätten zu bleiben.

Die wichtigsten Aufträge wurden unter strengen Hygiene- und Abstandsregelungen weiter bearbeitet. „Auf meine Mitarbeiter bin ich sehr stolz. Sie haben teilweise Arbeiten erledigt, mit denen sie im Alltag kaum Berührungspunkte hatten“, sagt Harnge. So konnte – auch dank Unterstützung weiterer Kollegen aus anderen Bereichen der Werraland Lebenswelten – die Produktion weitesgehend aufrechterhalten werden.

Schwierige Lage für Kochsberg und amelié

Aber nicht nur die Werkstatt war unmittelbar von der Corona-Pandemie betroffen. Auch die Töchterfirmen hat es hart getroffen. Für die Werraland-Beschäftigungsgesellschaft (WeBeG) bedeutete das: Schließung aller gastronomischen Bereiche, wie das Hotel und Panorama-Restaurant Kochsberg, das Bistro amélie mit Großküche und sämtliche Firmen- und Schulkantinen. „Wenn dir in einer Firma zwei deiner drei Standbeine von heute auf morgen wegbrechen, wird es mehr als sehr schwierig“, sagt WeBeG-Prokurist Ayman Karimé.

Viele Mitarbeiter mussten in Kurzarbeit, es wurde intensiv nach Wegen gesucht, den Verlust zu minimieren und den Fortbestand der gastronomischen Bereiche irgendwie zu sichern. Selbst, nachdem Kochsberg und amélie wieder geöffnet haben, ist die Lage weiter angespannt. „Die Auflagen sind hoch und die Menschen noch sehr zurückhaltend mit ihren Restaurantbesuchen“, so Karimé. Vor allem liegen große Bereiche des gastronomischen Geschäfts weiterhin komplett brach, denn es finden weder Feiern, wie Hochzeiten, Geburtstage oder Jubiläen statt. „Heißt für uns: Keine Gäste in unseren Festsälen, keine Bestellungen für Außer-Haus-Service“, sagt Ayman Karimé.

WEADI fährt Betrieb langsam wieder hoch

Nicht viel besser erging es der Werraland Ambulante Dienste gGmbH (WEADI). Keine Schulbegleitung beeinträchtigter Kinder bedingt durch die Schulschließungen, Zwangspause für den Familiendienst und stornierte Urlaubsreisen beim Reiseanbieter „Kochsberg Reisen“.
„Da bekommt man es mit der Angst zu tun, denn wir haben eine große Verantwortung gegenüber unseren Kunden und unseren Mitarbeitern“, sagt Beate Blumenstein, Prokuristin der WEADI. Das Schlimmste sei gewesen, dass niemand vorhersehen konnte, wie lange die verordneten Schließungen einzelner Teilbereiche andauern würden. „Wenn du dann noch hautnah mitbekommst, wie die Situation in nicht wenigen Familien immer dramatischer wurde, weil wir nicht helfen durften, nicht für Entlastung der Eltern sorgen durften, ist man nah an der Verzweiflung“, so Blumenstein. (Lesen Sie hierzu auch Artikel auf Seite 30)

Wohnstätten mit enormer Mehrarbeit

Bedingt durch die Schließung der Werkstatt wurde die eh schon anspruchsvolle und herausfordernde Arbeit in den Wohnstätten nochmals intensiver. Die Betreuung der Bewohner wurde hochgefahren, da nun auch die Beschäftigten der Werkstatt ganztägig in der Wohnstätte vor Ort sind. „Dieses Mehr an Arbeit ist nur durch einen noch größeren Einsatz der Mitarbeiter und mit Unterstützung von Kollegen anderer Bereiche aufzufangen“, sagt Martin Hofmockel, Geschäftsbereichsleiter Wohnen. Ob aus der Werkstatt oder der WEADI – viele Kollegen erklärten sich sofort bereit, auszuhelfen. „Für diese große Solidarität sind wir sehr dankbar“, so Hofmockel.

Erschwert wurde die Situation noch dadurch, dass der Besuch von Angehörigen in den Wohnstätten für Wochen untersagt war. „Diesen Schritt mussten wir gehen, auch wenn einige unserer Bewohner aus diesem Grund oft traurig waren. Priorität hatte und hat aber, die Menschen so gut es geht vor dem Corona-Virus zu schützen. Unter anderem auch deshalb, da viele Bewohner zur Risikogruppe gehören. Durch eine Fülle an Maßnahmen sind wir bisher zum Glück verschont geblieben. Selbstverständlich sind wir aber auf den worst case vorbereitet, bis hin zur Evakuierung der Wohnstätten“, sagt Martin Hofmockel.

Schwierige Zeiten für Kinder und Jugendliche

Dieses Maßnahmenpaket galt auch für die Lebenswelten-Bereiche, in denen Kinder und Jugendliche leben. Im Werner-Seeger-Haus in Reichensachsen und der Jugendhilfe-Einrichtung Burgenhof mit Standorten in Witzenhausen und Werleshausen standen die Sicherheit und der Schutz der jungen Bewohner an erster Stelle. Diese waren mit erheblichen Einschränkungen verbunden.
„Einem Jugendlichen beispielsweise zu sagen, dass er über Wochen seine Freunde nicht treffen und ohne Begleitung eines Mitarbeiters das Gelände der Einrichtung nicht verlassen darf, stößt auf wenig Begeisterung“, sagt Hofmockel. Aber in allen Bereichen seien die Mitarbeiter über sich hinausgewachsen, hätten mit viel Kreativität und Einsatz die Bewohner, die ihrerseits super mitgezogen haben, bei Laune gehalten und für viel Abwechslung im ansonsten monotonen Alltag gesorgt.

Verwaltung ebenfalls am Anschlag

Was für die Wohnstätten gilt, gilt genauso für die Verwaltung der Werraland Lebenswelten. Ein immenses Mehr an Arbeit musste und muss bewältigt werden. „Wir sind intensiv damit beschäftigt, wie wir als Gesamtunternehmen die entgangenen Einnahmen auffangen können“, sagt Geschäftsbereichsleiterin Birgit Sennhenn. Sämtliche Wirtschaftspläne mussten angepasst bzw. neu erstellt werden, die Folgen der Kurzarbeit für die betroffenen Mitarbeiter berücksichtigt werden. „Die hierfür zuständigen Mitarbeiter sind am Anschlag, seit Wochen arbeiten sie unter Hochdruck“, so Sennhenn.

„Hinter uns liegen sehr schwere Monate und vor uns noch einige Wochen der Wahrheit. Niemand weiß, wie es mit dem Corona-Virus weitergeht, daher wissen wir alle nicht, ob wir auf mehr Normalität hoffen dürfen, oder eventuell nochmals eine Verschärfung der Maßnahmen droht“, sagt Georg Forchmann, Vorstand der Werraland Lebenswelten.
Eines sei ihm aber in seinem ersten halben Jahr als Vorstand bei Werraland bewusst geworden: „Wir verfügen über viele außerordentlich engagierte Mitarbeiter. Ohne deren großen Einsatz wäre die Lage noch brenzliger geworden“, lobt Forchmann die gelebte Solidarität und die großartige Berufsauffassung in dieser schwierigen Zeit.

 

Über Wochen fast komplett verwaist: Die Werkstatt am Hessenring. Fotos: Winter

Die Gruppenleiter der Werkstatt hielten die wichtigsten Produktionen aufrecht. Wie hier in der Elektromontage wurde überall mit ausreichend Abstand zueinander gearbeitet.

Nach Wochen der Schließung durfte unter Einhaltung strenger Abstandsregelungen das Hotel und Panorama-Restaurant Kochsberg wieder öffnen. Auszubildende Julia Bender misst mit einem Zollstock die Tischabstände nach. Foto: Küllmer

Hauseigene Kioske wurden in den Wohnstätten eingerichtet. Jede Wohngruppe hat ihren separaten Einkaufstag.

Den Kinder im Werner-Seeger-Haus ging es trotz aller Corona bedingten Einschränkungen sehr gut - ein Verdienst der großartigen Arbeit der Mitarbeiter.

Die Isolation produktiv genutzt haben Bewohner und Mitarbeiter in der Wohnstätte am Brückentor. Sie bauten gemeinsam eine neue Sitzgruppe im Außenbereich.

Hat ihr Lächeln trotz aller Schwieigkeiten nicht verloren: Melanie Sauer von Kochsberg-Reisen, einem Teilbereich der WEADI.

Arbeitet wie viele andere Kollegen der Verwaltung seit Wochen am Anschlag: Isabell Federau von der Personalabteilung.